Von Julian Marius Plutz.
Es gibt Dinge, die muss man nicht erlebt haben. Fünf Jahre Knast in Tschetschenien zum Beispiel. Oder eine Wurzelbehandlung, bei der die Behandlung versagt. Oder aber eine Doppelfolge der Erfolgsserie „Forsthaus Falkenau“, bei der selbst die Füße von Toten einschlafen, was eine durchaus reife Leistung ist. Bei manchen Dingen weiß man einfach, wie es ausgeht, nämlich unschön. Und dennoch kommt man nicht umhin, sich diesem Erlebnis zu widmen. Tausendfach erlebt, tausendfach ist nix passiert. Außer Bluthochdruck, bis hin zur völligen mentalen Entkernung des eigenen Ichs. Die Rede ist von einem IKEA Besuch am Samstag Nachmittag.
Doch was tut man nicht alles für die traute Familie, genauer gesagt für Muttern. Muttern möchte „Polster“ kaufen. Die Konkretisierung der etwas allgemeinen Formulierung „Polster“ sollte sich im Laden selbst ergeben. Doch bis dahin sollten Stunden vergehen , die sich wie Myriarden an Tiraden herzloser Folter anfühlten. Doch der Reihe nach.
Ich fuhr Auto. Warum auch nicht? Dazu muss man wissen, dass mein Orientierungssinn in etwa so ausgeprägt ist wie portugiesisch in Nordkorea. Doch, wie erwähnt, was tut man nicht alles für Muttern. Diese lotste mich. Dazu muss man wissen, dass der Orientierungssinn meiner Mutter in etwa so ausgeprägt ist wie koreanisch in einem spanischen Dorf. Nach einer sehr ungelenken Fahrt, kurz Autobahn, dann wieder runter, um durch ganz Lengfeld, das ist ein Stadtteil von Würzburg, zu gurken, um sich dann wiederum auf dem Parkplatz eines Baumarktes zu verfahren (!) kamen wir nun schließlich an. Dachte ich zumindest.
„Wir parken zu weit von dem Eingang weg!“
Ich hielt und wollte aussteigen. Doch wo ist der Autoschlüssel? Es handelt sich bei dieser technisch ausgefeilten Variante nicht um einen Zündschlüssel, sondern um eines dieser kontaktlosen Dinger, die man einfach irgendwo im Auto hinlegen muss, damit selbiges anspringt. Genau, irgendwo. Und irgendwo habe ich oder Muttern den Schlüssel verlegt. Handtasche? Nein. Jarkett? Fehlanzeige. Hosentasche? No. Saß einer von uns etwa auf dem Schlüssel? Nicht die Bohne. Am Ende lag der Schlüssel wenig spektakulär, dafür um so schwieriger zu finden in einen dieser zahllosen toten Ritzen von Automobilen, die findige Innenraumingenieure ursprünglich dafür entworfen haben, um Schmuggelware zu transportieren, so schlecht kommt man an die abgelegten Gegenstände heran.
Wenn Sie glauben, wir könnten nun, zwar leicht entnervt, aber immerhin den oder die IKEA betreten, der hat die Rechnung ohne meine Mutter gemacht.
„Du hast zu weit weg vom Eingang geparkt“, merkte sie nach der Schlüsselsuche an.
„Wie bitte?“ entgegnete ich.
„Naja, es ist kalt. Fahr doch näher an den Eingang“.
Um weitere Blutdruckattacken zu vermeiden, ersparte ich mir weitere Kommentare, biss mir auf die Lippen und fuhr aus der freien Parklücke heraus, um das Fahrzeug in Richtung Eingang zu bewegen. Zu dem Zeitpunkt hatten wir sibirische 14 Grad Celsius.
Je näher der Eingang auf uns zukam, desto weniger Parkmöglichkeiten ergaben sich. Dieses völlig überraschende Szenario lies meine Mutter jedoch völlig kalt.
Operation: Auto einparken
„Fahr rechts“, ordnete sie an und ich fuhr in eine weitere Parkbucht.
„Da ist doch ein Parkplatz“, rief sie aus und tatsächlich. Da war eine Parklücke. Zwar eher für einen Fiat Punto, als für einen Ford Focus in Kombiausführung. Dort angekommen, schaute ich nach rechts.
„Der kommt niemals in sein Auto“, entgegnete ich meiner Mutter und deutete auf eine ca sieben Zentimeter große Lücke zum benachbarten Vehikel.
„Ach was, das geht schon“, erwiderte sie. Ja, wenn die Person an Anorexie leidet, dann hat sie eine Chance in ihr Auto einzusteigen. Aber da ich mich nicht auf diese Unwahrscheinlichkeit verlassen wollte, fuhr ich wieder aus dem Parkplatz und fand schließlich eine andere Möglichkeit, das Auto abzustellen. Leider und sehr zum Leidwesen meiner Mutter, zu weit weg vom Eingang.
Nach dem eiskalten Todesmarsch von rund 35 Metern kamen wir erschöpft am Sehnsuchtsort der Kreuzdebilen an. IKEA, was habe ich dich vermisst! Nach den Strapazen gönnten wir uns erst mal eine Waffel und einen Kaffee, den wir sodann austranken. Auf ins Gefecht!
An der Kasse trafen wir gut gelaunte Herrschaften. Doch ihre Laune würde sich sehr bald ändern, ja, dramatisch verschlechtern, wenn sie durch den zahllosen Gängen zwischen Billie und Ültrecht und Volfgang nicht mehr denken können. Dann sind sie seelisch ausgehöhlt, mental am Boden angekommen und nur noch ein Jota vom Zombiesein entfernt.
Kurz vor dem persönlichen Blitzkrieg
Kinder schreien, als litten sie Höllenqualen. Durchsagen, dass ein Emre und ein Torben aus dem Smaland gerne abgeholt werden würden, häufen sich. Ich fragte mich, wie viele Eltern ihre Kinder für Tage bei IKEA parken, um sich ungestört freiwillig bei IKEA foltern lassen. Eine Frau sagte zu ihrem Sohn, der für sein Alter erstaunlich früh kurz vor dem ersten Herzkasper stand – eine der zahllosen IKEA Nebenwirkungen – dass sie extra wegen der Schachteln zu IKEA gefahren ist. Gleiches gesellt sich zu gleichen, dachte es in mir und ich bin mir sicher, ihr Sohn dachte in dem Moment das gleiche. Woher kommt eigentlich die unstillbare Lust, meist von Frauen, dass sie bei IKEA Schachteln mit Deckel kaufen?
Überall sah ich einen Aufkleber. Zehn Jahre Garantie. Zehn Jahre garantiert das schwedische Fegefeuer, dass ihre Qualitätsprodukte halten. Ich sehe das so: Viele Beziehungen, die sich gerade frisch und fröhlich einrichten, halten nicht einmal fünf Jahre. IKEA ist Ihnen also voraus und ich bin mir sicher, dass bei jedem Besuch in diesem Möbelfolterhaus sich die Chance eine Blitzscheidung erhöht. Ich jedenfalls stand bei den „Polstern“ kurz vor meinem persönlichen Blitzkrieg.
Mit „Polster“ meinte meine Mutter nämlich eine neue Couch. Was folgte war das Probesitzen auf so ziemlich allen erreichbaren Möbelstücken, die vornehmlich in den aufregenden Farben grau, beige-grau, dunkelgrau und mittelgrau ausgestellt wurden. Was besonders auffiel: Bei vielen Couchs sank man metertief ein, als säße man direkt auf dem Boden. Ich stelle mir das tendenziell unpraktisch vor und hatte bereits die Telefonate meiner Eltern im Ohr:
„Du, Julian, kommst du am Wochenende? Wir sind mal wieder in der Couch versunken“.
Unnötig zu erwähnen bleibt, dass meine Mutter keine Couch gekauft hat. Dafür Kerzen und Glühbirnen, die es ausschließlich und exklusiv bei IKEA zu erwerben gibt und einen Klappstuhl. Die Heimfahrt gestaltete sich vergleichsweise reibungslos. Immerhin. Völlig ausgelaugt und von diesem Höllenritt kamen wir an und mir war eines klar: Selbst drei Staffeln „Forsthaus Falkenau“ am Stück gehen schonungsloser an meinem Seelenleben vorbei, als ein Besuch bei IKEA.